Abstraktionen

AquarellmalereiABSTRAKTIONEN. Das ist der Titel der Kunstausstellung mit Werken des Obermehner Künstlers Eberhard Werner, zu der ich Sie heute hier im Dammhaus mit einigen einführenden Worten begrüßen darf. ABSTRAKTIONEN ? - "Was erwartet mich da?", werden Sie wahrscheinlich vorher gedacht haben, Sie haben sicherlich schon bestimmt« Erwartungen aufgebaut, vielleicht sogar bestimmte Befürchtungen. Abstrakte Kunst - das ist ja ein Begriff, von dem jeder seine eigen« Vorstellung hat, die meist auch mit Wertungen verbunden sind. Das Fremdwörterbuch sagt uns zur Definition: "Abstrakte Kunst ist eine Kunstrichtung, die durch frei erfundene Formen Eigenes schaffen will, das seine Vorlage unabhängig von der uns umgebener Wirklichkeit findet".
Mit dieser Definition, das gleich hier und mit aller Klarheit vorweg, mit dieser Definition sind weder die hier ausgestellter Bilder noch das Gesamt-Oeuvre von Eberhard Werner richtig beschrieben. Sie werden schon beim ersten Rundgang sehen, daß der Künstler stets von der Wirklichkeit ausgegangen ist. Die Motive bleiben erkennbar, eine völlige Loslösung von der Realität findet nicht statt. Ihr Vorstellungsvermögen, Ihre Phantasie und Imagination können also aufatmen: Sie werden von diesen Bildern zwar angeregt und stimuliert, aber nicht strapaziert. Was an dieser Bildern ist denn nun abstrakt? Oder ist der Ausstellungstitel verfehlt?
ABSTRAKTIONEN! Das ist eigentlich ein Begriff aus dem Bereich der Logik. Er meint den Vorgang der Verallgemeinerung, der Vereinfachung. Ausgehend von vielen konkreten Beobachtungen, Details, Bruchstücken, einer Sammlung empirischen Materials, wird das diesem Material gemeinsame Moment begrifflich in einem Ausdruck komprimiert, also verallgemeinert. Das ist der uns allen zumindest in unserer Muttersprache geläufige Vorgang der Begriffsbildung, wenn wir - wie man so schön im Umgangsdeutsch sagt - die Dinge "auf den Punkt bringen".
Genau darum geht es Eberhard Werner. Interessant für uns vor allem deshalb, weil sein Medium nicht wie bei uns die Sprache, sondern das Bild, die Form, die Farbe ist. Lassen Sie uns also einmal gemeinsam seine Bilder betrachten und dem Künstler beim Abstrahieren auf die Finger schauen: Wie macht er das? Können wir seinen Verallgemeinerungen, seinen Vereinfachungen folgen, oder würden wir die Schwerpunkte anderswo setzen?
Ich versuche einmal zusammenfassend zu beschreiben, was die meisten der hier ausgestellten Bilder formal auszeichnet. Schon beim ersten Überblick fällt auf, daß die im naturalistischen Ursprungsmotiv vorhandene Einheit von Kontur und Farbe, die Differenz von Linie und Fläche, verschwimmt, sie wird teilweise aufgehoben. Ganz besonders deutlich können Sie das an den ausgestellten Bildpaaren "Im Wald" (l + 2} und "Stilleben mit Kerze und Laterne" (l + 2) erkennen: Zeichnung und Farbfläche verlieren ihre ursprüngliche Identität, statt farbiger Gegenstände und Motive finden sich Farbfelder, die meist streng vertikal und horizontal, also auch in Rechteckform, die gesamte Bildfläche organisieren. Die am realistischen Ausgangsmotiv noch festhaltende Zeichnung wird als schwarze Kontur auf diese Farbfläche aufgesetzt und geht dabei teilweise über verlaufende Grauwerte Verbindungen mit ihnen ein.
Eberhard Werner trennt mit diesem Verfahren also die zwei grundlegenden Prinzipien der Malerei voneinander, er separiert die farbige Gestaltung eines Bildraumes von der Formgebung und vereinfacht beide Prinzipien auf grundlegende Elemente, die dennoch ihre Ausdruckskraft und Klarheit behalten; - ja, vielleicht diese Attribute durch Vereinfachung erst in vollem Umfang entfalten. Die Farben jedenfalls - achten Sie einmal darauf - können hier leuchtender, kühner, reiner eingesetzt werden als bei der naturalistischen Malerei, die dem rechteckigen Bildformat angepaßten Farbflächen sorgen gleichzeitig für kompositorische Ruhe und Klarheit. Auch die aufgesetzten Zeichnungen sprechen in ihrer strengen Einfachheit für sich allein und benötigen die unterlegte Farbe nicht, sie haben etwas von der Ausdruckskraft fernöstlicher Tuschzeichnungen an sich. Aber Eberhard Werner geht nicht den Weg der völligen Auflösung der Einheit von Farbe und Form, wie dies viele farbtheoretisch fixierte Künstler vor und neben ihm getan haben, sondern er vereint die vereinfachten, abstrahierten Elemente des Motivs wieder, legt sie übereinander, und ermöglicht dem Betrachter, also uns, ein ganz besonderes Erlebnis: unser Auge bringt Form und Farbe wieder in Beziehung zueinander, ergänzt die fehlenden Details und Verbindungen und konstruiert somit eine neue farbige Wirklichkeit, die unsere eigene Wirklichkeit ist, die wir erst in das Bild hineinsehen! So werden wir als Betrachter dieser Bilder gleichsam zu "stillen Teihabern", denn wir sehen nicht nur ein Wernersches Motiv, sondern auch etwas von dem, was wir daraus gemacht hätten, wenn wir den Pinsel in der Hand gehabt hätten.
Eberhard Werner's Abstraktionen sind also offen, sie lassen Freiheiten, bieten Chancen: Der Farbe, sich zu entwickeln und zu leuchten; der Form die Freiheit vom Detail und die Chance zur fast archetypische Allgemeingültigkeit; und auch uns Betrachtern wird die Möglichkeit gegeben, einen eigenen Bezug zu den Bildern herzustellen.
Die Offenheit der Bilder geht allerdings an keiner Stelle in Beliebigkeit über: Die feste kompositorische Hand des Künstlers, seine sichere Farbenwahl, die gekonnte Kontur; all dies zeigt, daß Eberhard Werner eine klare Vorstellung von Kunst hat, von Harmonie und Schönheit, und daß er dazu einlädt, an seinen Vorstellungen teilzuhaben. Nie aber erscheint dieses Angebot als Diktat: Die den Bildern innewohnende Distanz, ihre Intellektualität, die als Kompromiß zwischen moderner Farbtheorie und der Formgebundenheit des menschlichen Wahrnehmungsapparates verstanden werden kann, sorgen dafür, daß der Balanceakt zwischen künstlerischem Gestaltungswillen einerseits und der Offenheit für die Subjektivität des Publikums andererseits gelingt. Ich will Sie nicht lange damit langweilen, wie man Eberhard Werners Abstraktionskonzept kunsthistorisch und farbtheoretisch erklären und einordnen könnte. Das ist ein Spezialthema, und ein eher trockenes dazu.
Aber wenn Sie einmal auf die Motive der ausgestellten Bilder achten, dann wird Ihnen schnell auffallen, daß sie fast ausschließlich aus der Natur genommen sind; Landschaft, Bäume, Häuser in wechselnden Konstellationen. Selten sehen Sie einmal Menschen, Leben und Bewegung, und erscheinten sie doch einmal, dann in einer seltsamen Erstarrung. Dieser Frieden der Bewegungslosigkeit findet sich in der Komposition wieder: sie ist stets abgerundet und ruht in sich. Wären da nicht die Farben, deren Leuchten das Gefühl, das Lebendige in den Bildern von Eberhard Werner repräsentiert, würde die Stille und Distanz der Bilder umschlagen in Kälte. Fast fühlt man sich an die Welt Dornröschens erinnert, in der jedes Leben äußerlich erstarrte, nachdem die Prinzessin sich in den Finger gestochen hatte, aber in Wirklichkeit unter der Oberfläche weiterpulst und auf den Moment der Befreiung wartet.
Wie kommt es zu diesem Abstand des Malers zu seinem Sujet, zu diesem Spannungsverhältnis zwischen Ruhe und Ausgewogenheit, einem offensichtlichen und ausgeprägten Harmoniebedürfnis, und einer farbig sich ausdrückenden Emotionalität, die allerdings stets kontrolliert, gezähmt und befriedet ist?

Eine mögliche Antwort gibt uns ein Blick auf die Biographie von Eberhard Werner: Er gehört einem idealistisch erzogenen und gesinnten Jahrgang an (1924), der unter dem Vorzeichen der totalitären Ideologie des Nationalsozialismus aufgewachsen ist und die Kapitulation von 1945 zunächst sicherlich nicht nur als Befreiung, sondern auch als Desorientierung erlebt hat. Seine Erfahrungen in der Sowjetischen-Besatzungs-Zone (SBZ) und in der später dort gegründeten DDR führten zu neuen Entäuschungen: Auch der real existierende Sozialismus östlicher Prägung schien – nach anfänglichen Hofnnungen - nicht die Staatsform zu sein, in der er sich als Künstler hätte für die Gesellschaft, für die Menschen, engagieren können.
Die Verpflichtung zur Verherrlichung von Arbeiter- und Bauerngestalten, die intellektuelle Enge und Wagenburgmentalität der DDR der 50er Jahre ließen ihn fast zwangsläufig den Weg in die innere Emigration antreten; die Familie, der häusliche Raum und vor allem die Natur in allen Aspekten sind diejenigen Lebensbereiche, in denen er Frieden, Erfüllung und Sinnhaftigkeit erfuhr, sie dominierten zunehmend als Motive sein Werk.
Die Darstellung des Menschen in seiner Lebenswelt, in der Gesellschaft, die immer auch eine Parteinahme, ein Engagement als Grundlage der künstlerischen Interpretation erfordert, ist ihm durch die zwei großen politischen Enttäuschungen seines Lebens obsolet geworden. Eberhard Werner hat seine Konsequenzen aus diesen Erfahrungen gezogen und sich in die scheinbar über der Politik angesiedelten Sphären der reinen Kunst zurückgezogen.
Aus dieser Lebenshaltung heraus entstanden die hier hängenden Bilder: sie wollen nicht politisch sein, sie wollen Harmonie und Schönheit als höchste Grundwerte der Kunst ausdrücken, sie wollen nicht mehr sein als ästhetische Impressionen von Reisen und Wanderungen; - aber sie sind doch mehr: sie zeigen in ihrer Innerlichkeitswendung ein typisches deutsches Nachkriegsschicksal mit seinen Wunden und Verletztheiten sowie deren künstlerische Verarbeitung.
Die Sehnsucht nach innerem Frieden, nach einer Heimat wird vielleicht besonders gut deutlich an dem Bild "Fachwerk im Grasgarten". Schon der Titel untertreibt! Diese angedeutete, einladend halb geöffnete Pforte, das idyllisch vorzustellende Fachwerkhaus inmitten eines verwunschenen, verwilderten Obstgartens; - darin drücken sich die Wünsche und geheimen Sehnsüchte des Malers nach Heimat aus, und zwar nach einer Heimat, einer Geborgenheit, die vielen Menschen seiner Generation, sowohl innerlich wie auch äußerlich, als Ergebnis des nationalsozialistischen Kollektivwahnsinns verlorengegangen ist, und auch durch die beeindruckenden Aufbau- und Wirtschaftswunderleistungen im Nachkriegsdeutschland nicht ersetzt werden konnte. Eberhard Werner's Bilder sind auch als künstlerische Aufarbeitung dieser Wunde, als eine ästhetische Form der Trauerarbeit, die zu einem Persönlichkeitsmerkmal des Künstlers geronnen ist, zu bewerten.
Abschließend noch einmal eine kurze Zusammenfassung des Gesagten: Sie sehen hier Bilder, die sowohl Ausdruck einer ganz persönlichen Lebensgeschichte, aber auch einer klaren Vorstellung darüber, was denn Kunst sei, und eines daraus resultierenden Formwillens sind. Die formale Bildorganisation bietet gleichzeitig dem Betrachter die Möglichkeit, sich selbst mit Gefühlen und Gedanken einzubringen, sich wiederzufinden. Sie werden bei Ihrem Rundgang merken, daß der Künstler dabei nicht auf Ihre "Nachtseite" zielt, also nicht Zerrissenheit und innere Konflikte ansprechen will, sondern die persönliche Integrität und Geschlossenheit stärken, das Positive zum Klingen bringen möchte.

Ralph Werner-Dralle
Einführungsvortrag zur Ausstellung „Abstraktionen“ im Dammhaus in Bünde (1989)